Samstag, 9. Juli 2016

Es war die Nacht der Geige

1944 Damals hatte er im Dunkeln gespielt, ohne Hoffnung und nur für sich, leise, kaum zu hören und doch von einer Klarheit, die ihn selbst am meisten berührt hatte. Seine Mitinsassen im Lager waren nicht zu hören, alle hielten den Atem an, lauschten gleichzeitig auf sein Spiel und die in regelmäßigen Abständen detonierenden Bombeneinschläge, die näher und näher kamen. Der Krieg lag in den letzten Zügen, man sehnte sich danach, dass dieser Irrsinn bald vorbei sein würde. Wie sie es geschafft hatten, für ihn eine Geige zu organisieren, war ihm immer noch ein Rätsel.

1964 Sie hatte ihn angesehen und war seiner Aufforderung zum Tanzen gefolgt, ein Walzer, süßlich-romantisch, sie glitten übers Parkett ohne ringsum etwas wahrzunehmen. Sie spürte, in diesen Minuten begann etwas Neues, ihr Leben schlug eine Richtung ein, die sie nie gewollt oder geplant hatte, mit einer Geschwindigkeit und Intensität, die sie verunsicherte und ihr den Atem nahm. War das ihr Leben? Konnte sie es noch ändern? Oder war dieser Mann, der sie ganz selbstverständlich und sicher im Arm hielt und mit ihr durch den Saal drehte, ihr Schicksal? Sie schwebte, der Rest war Nebensache.

1984 Nebenan übte der Nachbar, wie jeden Abend, um diese Jahreszeit war es draußen schon dunkel, und sie saß hier, mit diesem kleinen Etwas auf dem Schoß, ihrer alten Katze, die morgen eingeschläfert werden sollte. Das langgezogene Crescendo ließ ihre Trauer wachsen, staccatoartig hämmerte es in ihrem Kopf, war es die richtige Entscheidung? Durfte sie das? Hatte sie ausreichend nach Alternativen gesucht? Ihre Augen waren klar und voller Vertrauen, sie sah hoch zu ihr und schien sie trösten zu wollen. Federleicht war sie in den letzten Wochen ihrer Krankheit geworden, sie würde wie beiläufig davongehen und loslassen. Die Tonfolge schien in der Luft hängenzubleiben: Abschied tat weh.

2004 Es war weit nach Mitternacht, sie hatte den Computer gerade heruntergefahren, als im Radio diese Melodie kam, Geigenmusik, etwas weinerlich vielleicht, aber in einer Perfektion gespielt, die sie stocken ließ. Wie lange war das her, dass sie ihr Musikstudium aufgegeben hatte? Zugeben musste, dass ihr Talent nicht ausreichen würde? Wann hatte sie zuletzt ihr Instrument in die Hand genommen? Sie lauschte, und es kribbelte ihr in den Fingern, da lag er, der alte Kasten, etwas staubig und lieblos in der Ecke vergraben, und da war sie, die treue Begleiterin ihrer Kindheit und Jugend und auch noch frühen Erwachsenenzeit. Nachdenklich betrachtete sie das matt gewordene Holz, ihre Hände. Entschlossen griff sie zum Bogen.

2014 Die Töne überfluteten ihren Körper, still saß sie im hinteren Drittel des Großen Hauses, zwischen all den fremden Leuten, die nur die Liebe zur Musik miteinander verband. Wieder wanderten ihre Gedanken zu diesem Mann, dem sie sich so nah und verbunden fühlte, und der gleichzeitig unendlich weit entfernt schien. Töne überbrücken große Distanzen, sie wecken die Sehnsucht und legen den Finger in die Wunde. Es war nicht seine Schuld, dass sie nur vor sich hinträumte, sie hatte nicht den Mut, ihm näherzukommen, sich diesem Gefühl anzuvertrauen, das sie tief im Inneren spürte und stets im Keim erstickte. Hier im Konzertsaal wurde es groß und mächtig, drohte sie zu überwältigen und zeigte ihr, welche Kraft in ihm lag. War sie mutig genug? Sie musste die Herausforderung annehmen.

Der Tag begann, und die Welt war eine andere.

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