Samstag, 30. Mai 2009

Er sah auf die Uhr, zum Glück, kurz vor Mittag, eine Patientin wartete noch und nach einem kurzen Blick in die Unterlagen entschied er, dass er wohl doch mit seinem Praxiskollegen Essen gehen könnte, ein einfacher Fall, würde also vermutlich schnell gehen.

Sie hatte am 12.12. 2007 einen Rentenantrag gestellt
Am 18.1. 2008 hatte sie einen Termin beim Gutachter
Abgelehnt wurde ihr Antrag am 8.2. 2008
Am 12.3. 2008 legte sie dagegen Widerspruch ein
Ein weiterer Gutachtertermin war am 11.11. 2008
Am 4.3. 2009 wurde ihr Antrag erneut abgelehnt
Sie verzichtete auf eine Klage vor Gericht

Er hatte sich geirrt, sie war total verrückt. Jetzt erinnerte er sich schlagartig an die vielen Fälle in der Fachliteratur, die den Eindruck von Normalität vermitteln können und tatsächlich völlig unberechenbare Zeitbomben sind. Es gab auch bei Ihnen im Haus Patienten, die locker als Psychiater oder Psychologe durchgehen würden und schon oft unwissende Fachkollegen bei Kongressen täuschen konnten. Er selbst hatte sich fachlich sehr angeregt mit ihr unterhalten und dabei wohl ihre Verrücktheit ausgeblendet oder nicht wahrhaben wollen.

Sie hatte in ihrem Widerspruch geschrieben: Wissen Sie eigentlich was es bedeutet, ständig in irgendeine Schublade gesteckt zu werden? Was es bedeutet, mit 35 Jahren Rente zu beantragen, weil einem nichts anderes mehr zugetraut wird? Wissen Sie, wie schlimm es ist, wenn die Tage unberechenbar sind? Wenn man an einem Tag Bäume ausreißen kann und am nächsten nur völlig erschlagen versucht, den Tag zu überleben? Wissen Sie, wie man lebt, wenn man unfähig ist, Beziehungen zu knüpfen oder über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten? Wenn Nähe Panik auslöst und Flucht in Rückzug und Isolation die einzig möglichen Auswege darstellen?

Er war an ihrer eigenen Widersprüchlichkeit gescheitert, hatte ihre fachlich-intellektuelle Kompetenz als Garant für ihre sonstige "Normalität" genommen und sich dabei im Zirkelschluss von den Grenzverwischungen zwischen normal und verrückt überrumpeln lassen. Da stand sie vor ihm, wie eine Fata Morgana, der Revolver war auf ihn gerichtet und sie lächelte freundlich.

"Ich bin kein Simulant, ich lüge nicht, wenn ich zugebe, dass ich einen normalen Arbeitsalltag nicht schaffen würde bzw. nur unter großen Einschränkungen. Wenn es aber ohnehin nichts nützt, meine Schwächen einzugestehen, wenn es nur dazu führt, wieder einmal voller Häme abgewiesen und abgestempelt zu werden, warum soll ich dann meine wenigen Stärken verleugnen, mit denen es mir bisher gelungen ist zu überleben und mich nicht unterkriegen zu lassen von Menschen, die vermutlich nicht wissen was es bedeutet, zwischen die Räder von Bürokratie, Verordnungen, Regeln, Beurteilungen, Ab-Qualifikationen zu geraten."

Natürlich hatte er sie als voll arbeitsfähig eingestuft, ihrem Widerspruch damit den Boden unter den Füßen weggerissen, er war von ihrer Leistungsfähigkeit überzeugt, und gleichzeitig auch von ihren Schwierigkeiten, die mit ihrer Diagnose Borderline-Schizophrenie zusammenhingen. Er brauchte das Geld aus den Gutachten für seine Praxis, die noch im Aufbau war und viele Investitionen nötig machte, er wußte, dass die Rentenkasse auf andere Gutachter zurückgreifen würde, wenn er zu oft im Sinne der Patienten urteilte, und er hatte sich blenden lassen von ihrer aufgesetzten Normalität.

Ihr Widerspruch endete mit den Worten: Krankheit beinhaltet immer auch Kompensation, Diagnose immer auch Dagegensein und Durchhalten und Gutachten setzt sich zusammen aus gut und achten.

Dr. A. wurde am 28.5. 2009 um die Mittagszeit schreiend von seinem Kollegen in seinem Sprechzimmer gefunden, wo er sich heftig strampelnd auf dem Boden herumwälzte und besessen war von der Idee, eine Frau sei eingedrungen und wolle ihn umbringen. Es tat ihm leid, doch routiniert wählte er die Notfallnummer und ließ ihn von den Kollegen der nahen Klinik abholen. Die Diagnose war klar, akute psychotische Dekompensation, nichts besonderes im Arbeitsalltag eines Psychiaters.

Wie gehts meinem Kollegen, Dr. A.?
Er ist tot
Was ist passiert?
Erschossen, diese Nacht
Selbstmord?
Ein kurzes Zögern am Ende der Leitung
Das wird noch zu klären sein