Freitag, 31. Juli 2009

Gastbeitrag von Ulla Wocker

So, heute sollte sie also kommen, diese Silvia.

Ich bin im Kindergarten im Moment die Älteste. Meine Freunde sind dieses Jahr in die Schule gekommen. Natürlich freue ich mich auf Silvia. Sie ist 5, wie ich, und wir werden bestimmt gute Freunde.

Heute werde ich mit dem Handbohrer Kastanien bearbeiten, denn wir wollen Männchen basteln. Ich bin die einzige, die diese Aufgabe übernehmen darf, da die anderen noch zu jung sind und außerdem nur ein Bohrer da ist. Das macht Riesenspaß und außerdem bin ich richtig wichtig.

Plötzlich steht Silvia mit unserer Kindergärtnerin, die ja lustigerweise auch Silvia heißt, vor mir. Über meiner Arbeit habe ich sie total vergessen. `Na ja, dünn und blond ist sie also´, denke ich mir. Die "große Silvia" sagt: "Sie kann auch mit dir Kastanien bohren." Na ja, also gebe ich ihr wohl oder übel den Bohrer. Ich bin aber so richtig wütend auf sie. `Fängt ja toll an!´, denke ich mir.

Da grinst sie mich an und ich glaube, wir werden vielleicht doch noch gute Freunde.

Freitag, 24. Juli 2009

Gastbeitrag von Ulla Wocker


Fliegen


Ich liege in einer wunderschönen Wiese.
Wir - mein Hund und ich - sind sehr oft hier.

Ich höre ihn herumtollen doch ich, ich betrachte den Himmel und träume. Der Duft von Freiheit kommt mir in die Nase. Tief und genussvoll atme ich ihn ein.

Ja, dort oben, ich fliege mit den Vögeln und schwinge mich durch die Lüfte - herrlich. Der blaue Himmel umarmt mich. Die Wolken sind weich. Sie laden mich ein. Ich lege mich hinein, um ein wenig auszuruhen.

Plötzlich - etwas Nasses. Ich schrecke hoch. Mein Hund hat mir die Nase geleckt. Er will weiter. Ich muss noch einmal an den Traum denken.


Ich war für kurze Zeit glücklich
und frei.

Freitag, 17. Juli 2009

Tuuli laulu taru, was für ein geheimnisvoller Klang in den Worten, welch aufregende Verheißung bargen sie in sich, wie gut ließ sich mit ihnen träumen. Träumen vom Aufbruch, vom Aufbruch in die Ferne, vom Aufbruch ins Abenteuer, in die Ferne.

Odysseus saß am Fenster, blickte hinaus auf die Straßen - menschenleer, kaum etwas zu sehen, um diese frühe Morgenstunde. Hin und wieder huschte vielleicht mal eine etwas zwielichtige Gestalt vorbei, die - wie er - nicht mehr schlafen konnte, oder noch gar nicht geschlafen hatte. Warum schlief er nicht wie sonst auch, seinen ruhigen, tiefen, erquickenden Schlaf? Was war so beunruhigend, was quälte ihn?

Er war nach Hause gekommen, in die Heimat, überglücklich hatte er Vater und Mutter, die jüngeren Geschwister in die Arme geschlossen und sich gefreut, daheim, endlich, nach so langer Zeit also daheim. Die ersten Tage war er mit offenen Augen durch die Straßen der Stadt gezogen, gierig hatte er alles Neue, alles doch irgendwie so wohlvertraute in sich aufgesogen und den Frieden, die Ruhe, die Eintönigkeit genossen. Es war erholsam nach den aufregenden Zeiten auf dem Meer.

Tuuli, klang das nicht wie der leise Ruf des Windes in den Segeln bei guter Fahrt? Wenn man vorankam und das Schiff wie von selbst über das Wasser glitt? Tuuli, tuuli, kleiner verführerischer Ruf, lockend, bittend, ein leiser Ruf, vertraut, in ihm lag soviel Sehnsucht, soviel Hoffnung und Freiheit.

War er denn hier unfrei? Fühlte er sich etwa gefangen? Bestimmt nicht, er konnte tun und lassen was er wollte, er war ein Held, im Triumph von der ganzen Stadt empfangen, er genoss alle nur denkbaren Freiheiten. Auch seine Familie vereinnahmte ihn nicht - wie er manchmal befürchtet hatte, er konnte kommen und gehen wann und wohin er wollte. Aber die Stadt war klein, so erschreckend klein angesichts der Weiten, die er erlebt hatte: Weite des Meeres, unendlicher Himmel, freier Blick bis zum Horizont in alle Richtungen.

Er wendet sich ab vom Fenster, blickt in dem kleinen Raum umher, nachdenklich. Hier ist er aufgewachsen, er ist ein Stück Heimat - sein Zimmer im Hause seiner Eltern - er war vor ihm schon da und wird immer für ihn da sein, bereit, ihm Asyl zu gewähren. Und doch, er muss raus hier, wie bedrückend dieses Eingesperrtsein auf engstem Raum. Das hat nichts mit der Größe eines Zimmers zu tun, es könnte ein Ballsaal, eine Markthalle sein und er würde sich trotzdem unbehaglich fühlen - man sieht überall Wände, Begrenzung, die einengt, nicht wie die Linie des Horizontes, die das Versprechen in sich trägt, nie näherzukommen.

Rasch zieht er sich an, wirft sich einen Umhang über und verlässt fluchtartig das Haus. In den Straßen fühlt er sich freier, schnellen Schrittes durcheilt er sie. Wohin? Wohin lockt ihn die Nacht? Die Nacht in ihrer kühlen Stille, weich einhüllend?

Laulu, der Gesang der Nacht, der Gesang des Meeres, ein Lauschen, ein Rauschen, einlullend, schlummern in diesem Singsang der Wellen. Leises Plätschern der Wellen am Bug des Schiffes, dahintreiben, ohne Ziel, entgegentreibend, was die Götter für einen vorherbestimmt haben, was sie für richtig halten. Und doch, gerade am Ende seiner langen Reise diese grenzenlose Einsamkeit, verlassen von allen Göttern, niemand, der ihn führt, auf den man vertrauen könnte.

Er denkt ungerne an diese Augenblicke tiefster Verzweiflung zurück wo er erbittert auf den Knien vor ihnen lag und wusste, sie würden nicht antworten, nicht ihm, der ausgezogen war sie herauszufordern, der beweisen wollte, welche Kraft und Energie in diesen kleinen schwachen Menschenkreaturen stecken kann, der sich befreien wollte von der Herrschaft und Willkür der launischen Götter, die gnädig gestimmt sein wollten und ergebenen Dienst von einem forderten.

"Ich will nicht dienen", er schreit es durch die Gassen, zitternd im Innern, ob ihn nun der Blitz des allgewaltigen und zu leicht nur reizbaren Zeus treffen würde, aber nichts geschieht, nicht einmal die Bäume verstärken ihr leises Rauschen.

Taru, alles nur eine Sage vielleicht? Die zahlreichen Geschichten und Erzählungen der Alten, die von Generation zu Generation weitervererbt werden? Ihn zittert bei diesem frevlerischen Gedanken. Tand, Tarnung, Ruhe, Beruhigung. Taru, dunkel, geheimnisvoll, versteckend, was nicht ans Licht will, was im Dämmer des Tages, der Nacht ausgebrütet wird und lebt.

Aber er hatte sie gesehen, die Götter, sie hatten leibhaftig vor ihm gestanden, er wusste - oder meinte zu wissen - dass es sie gab, dass ihn seine Augen nicht getrogen haben konnten. Doch wenn es sie auch gab, waren sie Freunde oder Gegner der Menschen? Musste man ihnen dienen oder gegen sie kämpfen? Kämpfen für Selbständigkeit, für Unabhängigkeit, für Freiheit? Hatten sie nicht bestimmt, dass Städte gebaut werden sollen, Tempel und Altäre? Hatten sie nicht angeordnet, dass Menschen sich in Städten zusammenschließen und sesshaft werden? Oh wie er sie hasste dafür und dagegen rebellierte.

Er ist inzwischen fast am Hafen angelangt, schon kann er das Meer, sein Salz, riechen, schmecken, die Wellen an die Kaimauer klatschen hören, ah, er lebt auf, noch ein paar Schritte, hastig zurückgelegt, und er steht da, vor ihm ausgebreitet das Meer, sein Freund und Begleiter, seine Sehnsucht. Tiefes Aufatmen, kurzes Augenschließen, um diesen Anblick nur noch gieriger in sich aufzunehmen.

Das Meer, wie bestürmt es sein Herz, zieht es hinaus in die Weiten, in die Ferne, das Unbekannte. Ja, er wird diese Stadt verlassen, er wird erneut aufbrechen, zu neuen Ufern, unbekannten Stränden. Ankommen ist schön, aber aufbrechen ist Glück, liegt doch darin noch all die Hoffnung, die Sehnsucht, die in einem wachen Menschenherz zu wachsen vermag.

Tuuli, laulu, taru. Worte, ihm zugeraunt im Heraufdämmern eines neuen Tages, irgendwann, irgendwo, in fremder Zunge, Laute nur und doch voller Ahnung: Wind, Gesang, eine Sage.

Donnerstag, 16. Juli 2009

Traurig, ach ja, wie traurig. Am Fenster sitze ich, am Fenster in meinem Zimmer und bin betrübt. Wie konnte ich aber auch annehmen, dass die Zeit unbeschadet über ihn hinweggegangen sein könnte, wie annehmen, es möge noch immer die alte Vertrautheit zwischen uns bestehen, noch immer, wie vor Jahren, als wir uns trennten als Freunde, und er aufbrach zu Abenteuer, Ruhm und Ehre.

Was ist passiert? Warum nur ist er so fremd? Kommt es nur mir so vor oder ist tatsächlich ein völlig anderer Mensch nach vielen Jahren nach Athen heimgekehrt? Fremd ist er mir, so entsetzlich fremd. Als wir uns vor ein paar Stunden trafen und ich ihn von weitem schon wiedererkannte, dachte ich einen Moment, die Zeit sei stehengeblieben und wir beide wieder jung und unbedarft - das Leben noch gespannt erwartend. Aber ach, wie schnell verflog diese Illusion und wie schnell musste ich erkennen, wie fremd wir einander geworden waren. Ich glaube, auch er war bestürzt darüber, auch er konnte nicht glauben, dass selbst Freunden wie uns dieses Schicksal nicht erspart bleibt.

Freunde - gute Freunde, damals dachten wir beide Freunde in alle Ewigkeit - standen sich wie Fremde gegenüber. Wie Fremde erzählten wir uns dies und jenes, wie Fremde lachten wir und scherzten, wie Fremde taten wir so, als sei "alles bestens" und wir glücklich und zufrieden mit der Situation. Wie absurd und beschämend, wie erniedrigend und demütigend, dem besten Freund, dem einzigen, gegenüberzusitzen, so nah und doch so erschreckend weit entfernt. Eine unsichtbare Mauer trennte uns, unsichtbar für jeden Außenstehenden aber kalte, spürbare Realität für uns, die wir versuchten, sie zu durchbrechen, oder wenigstens ein winziges Loch hineinzuschlagen.

Es war unmöglich, er kratzte auf seiner, ich auf meiner Seite, doch die zunehmende Trauer unserer Herzen legte zusätzlich noch eine dicke Eisschicht darüber. Quälend zäh verflossen die Minuten, wir hangelten uns von Augenblick zu Augenblick und obwohl wir genügend Gesprächsstoff hatten und kein peinlich-bedrückendes Schweigen entstand, wussten wir doch beide, dass unser Reden die Freundschaft nicht mehr zu beleben vermochte, im Gegenteil, sie zog sich in immer weitere Fernen der Vergangenheit zurück.

Vielleicht wäre es besser gewesen, nach den ersten 10 Minuten das Treffen einfach abzubrechen, es wäre zumindest aufrichtig gewesen und weniger würdelos. Nach gut 1 1/2 Stunden erschien es uns dann jedoch absolut notwendig zu sein auseinanderzugehen, zu lange schon hatten wir beide uns durch dieses erbärmliche Schauerstück, halb Trauerspiel, halb Komödie, gekämpft und wie Gladiatoren nach einem anstrengenden Kampf waren wir müde, erschöpft, am Ende unserer Kräfte. Kaum hatte ich noch die Kraft, ihm "Lebwohl" zu sagen, zu schwer wog das Gewicht der dunklen Gegenwart, die mir die Erinnerung an vergangene Zeiten in noch hellerem, strahlenderem Licht zeigte. Wie ein Blitz zuckte sie vor meinem inneren Auge auf, um dann, nach diesem kurzen Aufflammen, in tiefste Dunkelheit zu sinken.

Ich schleppte mich nach Hause, konnte kaum meine Füße vom Boden heben, so bleischwer zog mich hinab, was ich erlebt hatte und immer noch nicht recht fassen konnte. Ich habe ihn verloren, keine Hoffnung mehr, keine Zukunft.

Liegt es an unseren unterschiedlichen Erfahrungen in den letzten Jahren? Dass er Meere befahren und andere Welten gesehen hat, während ich nur immer hier zuhause war und einen geruhsamen und wohl auch recht eintönigen Lebensalltag verbrachte? Was trennt mich von ihm, was ist so unüberwindlich, dass es wie ein See voller Bitterkeit zwischen uns liegt? An gutem Willen mangelt es uns beiden nicht, er selbst wollte mich schließlich sehen, und welch Leuchten glitt über sein Gesicht, als er mich sah? War es vielleicht nur die Sehnsucht nach den unbekümmert-sorglosen Jahren, die wir gemeinsam verbrachten, die nun hinter uns liegen und nie wiederkommen werden? Träumten wir beide davon, mit diesem Treffen, wenn nicht glücklichere, so doch zumindest zweifelsfreiere und damit leichtere Zeiten heraufzubeschwören?

Nun jedenfalls sind wir erwacht und blicken noch unausgeschlafen und in der ungemütlichen kalten Morgendämmerung fröstelnd auf die nackte Realität, der einhüllende Schleier des Traumes ist weggerissen.

Ich habe einen Freund verloren - unwiderbringlich.

Mittwoch, 15. Juli 2009

"Büße, Tochter der götterverlassenen Nacht, büße!"

Durch die Straßen lief sie, es war weit nach Mitternacht, eine samtig weiche Sommernacht, eine Nacht für verliebte Paare, für Nachtschwärmer, eine Nacht zum Träumen, zum Glücklichsein. In ihr jedoch tobten sämtliche Höllenfeuer, und der Chor der tausend und abertausend Stimmen schrie und heulte auf sie ein. Empört hatte ihn ihr unmögliches Benehmen und außer sich vor Wut und Hass bestürmte er die arme Sünderin mit seinem Anklagegesang von dem durchdringender als alles andere ihr ein beständiges "büße, büße!" in den Ohren gellte.

Sie hatte schon Schuhe und Strümpfe ausgezogen und bemühte sich, nicht den kleinen spitzen Steinen auszuweichen, denn sie wollte büßen, aufrichtig ihr Tun sühnen und damit - so hoffte sie wenigstens - ein bisschen Ruhe finden.

Etwas tief in ihr jedoch rebellierte gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, etwas in ihr war nicht demütig und fromm und bußbereit, sondern ganz im Gegenteil voller Zorn und Auflehnung, voller Hass fast und schrecklich erbittert über das eigene Verdammtsein zur Ohnmacht.

"Odysseus, ha!" voller Hohn klang ihr kurzes Auflachen "wer bist du, dass du meinst, du könntest mir was vorspielen, ausgerechnet mir, der du früher immer dein Herz ausgeschüttet hast, zu der du Sorgen und Kummer gebracht, bei der du dich ausgeweint hast. Was ist passiert, dass du nun also auch vor mir den großen Helden mimst, den Frauenliebling, den Starken, den Kämpfer, den Siegreichen? Bist du wirklich so darauf angewiesen, von jedem nur noch Ehrfurcht und Bewunderung widergespiegelt zu bekommen?"

Sie dachte an den Abend zurück, wie sehr hatte sie sich gefreut, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Ein paar Wochen war er nun schon in der Heimat, Tage, an denen sie voller Ungeduld darauf gewartet hatte, dass er endlich auch zu ihr kommen würde, an denen sie zuversichtlich war, dass er ihre zahlreichen kleinen Briefe und Aufmerksamkeiten nicht unbeantwortet lassen würde, Tage aber auch, an denen sie teilweise hoffnungslos und in tiefster Resignation am Fenster saß und wusste, er würde nicht kommen.

Schon einmal hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und war in die Nähe seines Hauses geschlichen, aber dann hatten sie doch Zweifel übermannt, und eilig und beschämt war sie umgekehrt. Das Schlimmste für sie wäre es, lästig zu sein, ungelegen zu kommen, zu stören. Heute jedoch, heute war der Drang in ihr, ihn wiederzusehen so stark gewesen, dass sie blindlings zu ihm hinmarschiert war, ohne an mögliche Folgen zu denken.

Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit, sie waren zusammen aufgewachsen, hatten die gleichen Spiele gespielt, die gleichen Streiche ausgeheckt. Hatten sie nicht gemeinsam unter den Heckenrosen gesessen und von der großen weiten Welt geträumt, von den Meeren und Stürmen, von Drachen und Zyklopen, von gefährlichen Abenteuern und der siegreichen Heimkehr als Held? Ja, für ihn war dies alles Wirklichkeit geworden, er war siegreich heimgekehrt - von großen Abenteuern - als "Held".

In den Stürmen und brausenden Wogen musste ihm jedoch die Freundschaft verlorengegangen sein, wie sonst ließ sich erklären, dass er sie so gleichgültig, so nichtachtend, so voller Desinteresse behandelte und ihr - wie allen anderen - nur die glänzende Außenfassade seines Ichs entgegenhielt.

Sie rannte mehr als dass sie ging, ihr Haar war eine Spur wilder als sonst und wer sie nicht kannte, hätte meinen können, sie werde vom Teufel höchstpersönlich verfolgt, so weitaufgerissen waren ihre Augen, in denen sich Schmerz und Trauer festgekrallt hatten. Sie war verletzt und zutiefst gekränkt, fühlte sich ausgenutzt, gedemütigt und achtlos weggeworfen, wie ein alter Handschuh.

War das noch der Odysseus, den sie zu kennen glaubte? Der sein großes reines Herz freimütig vor ihr ausgebreitet hatte und ohne Scheu auch eigene Schwächen und Fehler eingestehen konnte? War das Odysseus, der ein Lied auf die Freundschaft sang und ihr Treue schwor, weil sie beständiger war als brennende Liebe? Irgendwo in der hintersten Ecke ihrer Erinnerung tauchte jedoch ein Satz auf, den er - heranwachsend - zu ihr gesagt und den sie zu ignorieren versucht, verdrängt hatte: "Zwischen Mann und Frau kann es keine dauerhafte Freundschaft geben, sie wird durch Liebe ersetzt oder zerbricht."

Sie hatte ihn nicht ernstgenommen, hatte ihn abgetan, wie einen Zauberspruch, an den man nicht glaubt, obwohl sie wusste, was für ein Frauenheld er war, seine Eskapaden kannte - hoffnungslos verdorben - und das ständige Kokettieren mit seiner düsteren Lasterhaftigkeit im Grunde genommen hasste. Sie hatte darüber hinweggesehen, hatte die Augen davor verschlossen, weil sie sein Freund sein wollte.

Verkannt habe ich dich, oh wie habe ich mich in dir getäuscht, großer Odysseus, pah, von wegen groß, klein bist du, winzigklein und eingeschränkt dein Geist, der vorgibt aufgeklärt und tolerant zu sein. Weißt du, wie hassenswert du bist, wie abgrundtief abscheulich deine Nichtachtung mir gegenüber ist, deine Nachlässigkeit, dein unentschuldbares Verhalten?

Du spielst vor mir den großen Liebhaber, erzählst mir, was du dir alles einfallen lässt, um deine aktuelle Flamme zu begeistern, zu verführen, zu erobern. Du steckst voller Einfälle, Ideen, ihr zu gefallen, zu imponieren, sie zu beeindrucken, denkst du dir stets Neues aus, überraschst sie mit den ausgefallensten Geschenken, schreibst ihr Gedichte, arrangierst ein Picnic im Mondschein, deine Gedanken überschlagen sich förmlich.

Und ich? Verdammt nochmal Odysseus und ich? Behandelt man so eine alte Freundin, die die langen Jahre deiner Abwesenheit stets voll Sorge an dich gedacht hat, die um dich zitterte und bangte, die vor Zeus auf den Knien lag, zahlreiche Lämmer opferte und ihn um eine baldige und glückliche Rückkehr anflehte? Ich hielt dir die Treue, ich wandte mich nicht ab, als man anfing, Schlechtes über dich zu erzählen und Witze über deine Einfalt und Naivität machte. Ich habe dich verteidigt und zu dir gehalten, auch wenn in dieser langen Zeit kein einziger Brief ankam.

Verraten hast du meine Freundschaft, verraten und hintergangen, da liegt sie, im Staub, krümmt sich vor Schmerz und Enttäuschung, während du ihre Tränen nicht einmal siehst und sie nur immer weiter mit den Füßen trittst. Was bist du für ein Tier, was für eine brutale, ungehobelte Bestie, hassen werde ich dich bis ans Ende meiner Tage, hassen und verachten. Besudelt hast du die Freundschaft, indem du mir zeigtest, was du für ein "Mann" bist - mich ekelt!

Zusammengekauert im Staub, vor Erschöpfung halb eingedämmert, gleich würde ein neuer Morgen hereinbrechen - nichts war mehr gut, nie wieder.

Dienstag, 14. Juli 2009

Rückkehr des Odysseus

Voller Ungestüm war er, begierig darauf nach Hause zu kommen, obwohl er nicht wusste, was ihn erwarten würde. Lang war die Reise gewesen, voller Abenteuer, neuer Eindrücke, Erlebnisse, Hindernisse und Schwierigkeiten, genossen hatte er - trotz allem - jede Minute. Die herbe Luft hatte ihn gezaust, herumgewirbelt, hatte ihn an manch seltsamen Ort verschlagen und ihn herausgefordert. Nicht immer muss es gleich ein Sturm sein, der einem die Rückkehr unmöglich macht.

Polternd war er durchs Hoftor gestürmt, hatte im Laufschritt den kurzen Weg zum Haus genommen, die wenigen Treppenstufen hinauf. Besinnungslos hatt er die Tür aufgerissen, doch jetzt, wo es galt durch den Flur hinein ins Wohnzimmer zu treten, stockte er - mitten in seiner Freude, sein jubelnd klopfendes Herz war mit einem Mal voller Angst und kleinlaut wie ein Hund mit schlechtem Gewissen. Mit welchem Recht drang er hier ein, mit welcher Selbstverständlichkeit verlangte er zurück, was er nie besessen hatte, nie besessen würde.

In der Vorfreude hatte er vergessen, was damals - vor unendlich langer Zeit - geschehen war, in welcher Verfassung er Haus und Hof verlassen und sich dem Schicksal überantwortet hatte: das Bild von ihr wird er wohl nie vergessen können, wie sie in der Tür stand, hoch aufgerichtet, voller Stolz, die Arme vor der Brust verschränkt und in ihren Augen nur Abweisung, kristallklare Kälte. Voller Verachtung hatte sie ihm nachgeblickt und ihn damit mehr gekränkt und gedemütigt, als harsche Worte, Wut oder Hass es je vermocht hätten. Die wenigen Schritte bis zum Hoftor waren ihm endlos lang erschienen und wie groß war seine Befreiung, als er es mit hartem Ruck ins Schloss warf.

Geschafft, nie wieder - das schwor er sich damals - würde er diesen Ort seiner Schmach betreten, nie in seinem ganzen Leben zurückkommen. Freudig hatte er sich dem Schicksal in die Arme geworfen, freudig um einen schnellen Tod gebetet, freudig das weite offene und gefährliche Meer begrüßt.

Und nun stand er hier, im dunklen Flur, voller Furcht, was ihn hinter der halb angelehnten Tür erwarten würde, verzagt, unfähig einzutreten, unfähig fast zu atmen. Wo war sein Mut, seine von allen gepriesene Verwegenheit, wo war der tollkühne Odysseus, der Meere und Gefahren überwand, der im Triumph durch die Straßen der Stadt geführt worden war, rechts und links bejubelt von alt und jung, von allen Bewohnern seiner Heimat? Doch was zählte das Volk, die Menge, die zahlreichen Jubler, wenn es galt, ein einziges Herz nur zum Höherschlagen zu bringen, wenn ihm nur die Meinung eines einzigen Menschen wichtig war? Was würde sie sagen, die er so hartnäckig und verzweifelt vergessen wollte? Wegen der er Land und Heimat hinter sich gelassen hatte, um ihrer Macht zu entfliehen, ihrer Macht, um so vieles größer und stärker als Mut, Kraft und Heldentum.

Da stand er und fühlte sich klein. Mit jeder Minute, die verstrich, ohne dass er einzutreten wagte, wurde er kleiner und hilfloser. Hatte er nicht dem Gesang der Sirenen getrotzt? Er wusste, sie musste nicht singen, um ihren Einfluss zu demonstrieren, ihr Schweigen genügte, ihn zum willigen Sklaven werden zu lassen, der nichts begehrte, als ihr dienen zu dürfen.

Die Sehnsucht, sie wiederzusehen - egal wie sie ihn empfangen würde - siegte schließlich. Er trat ein. Sie saß am Fenster, wandte ihm den Rücken zu und las. Wilde unbändige Freude riss ihn mit, ungestüm durchquerte er mit wenigen Schritten den Raum. Sie wendet den Kopf, Erstaunen, Schrecken, Freude, Spott liegen in ihrem Blick, aber auch Scheu, die ihn mitten in der Bewegung innehalten lässt. Die Arme, Hände, Finger, schon halb ausgestreckt, sie zu umarmen, sinken herab, bewegen sich fahrig, unschlüssig in Hüfthöhe, abgehackt, ihrer Natürlichkeit beraubt.

Sie mustert ihn jetzt gründlich, mit ungeteilter Aufmerksamkeit und tiefem Ernst, der der Situtation fast weihevolle Züge verleiht. Ihr Blick sucht den seinen, versenkt sich in seine Seele, die wie ein aufgeklapptes Buch vor ihr liegt. Schlagartig wird ihm bewusst, dass allein diese Frau die Abgründigkeit seines unsteten Charakters erwidern kann, dass ihre Zerrissenheit die seine anzieht und gegenseitiges Verstehen sie aneinanderkettet.

Es gab zahlreiche Frauen in seinem Leben, von einigen hat er sich das große Glück erhofft, doch erst jetzt wird ihm klar, wie unsinnig sein Träumen war. Er hatte geglaubt zu lieben, obwohl er nur Geborgenheit und Frieden in ihren Unschuldsaugen suchte, die ihn - reinen Kindern gleich - ansahen, liebten, aber niemals zu verstehen vermochten. Ihr völliges Anderssein hatte ihn angezogen, sein Staunen herausgefordert, ihn jedoch jedesmal leer und unzufrieden zurückgelassen, wenn er erkannte, dass sie ihm nichts entgegenzusetzen hatten.

Hier saß seine Herausforderung, ihre Unergründlichkeit fesselte ihn, ihr Geheimnis war dem seinen ebenbürtig, ihre dunkle Nacht loderte wie seine eigene Hölle.

Impulsiv zuckt seine Hand vor und legt sich in ihren Nacken, die Finger in ihr Haar vergrabend, eine zärtliche und gleichzeitig besitzergreifende Geste, eine Reminiszenz an frühere - glücklichere - Zeiten ihres Beisammenseins. Kräftig sein Griff, zu groß die Versuchung, diesen dunklen Nacken, in geradem Stolz Bindeglied zwischen Kopf und Körper, zwischen Verstand und Sinnlichkeit, zu ergreifen, zu liebkosen. Verbindung herstellen, Vertrautheit und - nein soweit wagt er noch nicht zu denken.

Seine Hand brannte und er hätte sie sicher schamhaft wieder zurückgezogen, wenn sich nicht in diesem Moment ihre Züge schlagartig verändert hätten: Alles Starre und sorgfältig Gezügelte fiel von ihr ab und vor ihm stand das ungebändigte Mädchen, das ihn vor wissen die Götter wie langer Zeit bezaubert und mitgerissen hatte.

Wie rote Nacht ergoss sich ihr Blick in ihn, wühlte sich in seine Tiefen und fragend brach ihr Wissensdurst durch sein Seelengestrüpp. Die alte Vertrautheit - wie schnell war sie auf einmal wiederhergestellt, hier war sein Partner, den er auf seiner endlos langen Fahrt so nachdrücklich gesucht hatte, um sich mit ihm messen zu dürfen, hier war er und hier war sie, gleichberechtigt und ebenbürtig.

Sie hatte die schon verheilte Narbe, die er vom Kampf mit dem Drachen davongetragen hatte, entdeckt, er sah Erschrecken, Ahnen und schließlich Einverständnis in ihren Augen. Mit leichter Hand fuhr sie sie entlang und akzeptierte. Eine Spur von Lächeln und Spott spielte um ihren Mund, dem noch kein einziges Wort entschlüpft war und mit einer grenzenlosen Erleichterung schüttelte er sie sanft im Genick. Er wusste: Alles ist gut.

Donnerstag, 9. Juli 2009

Gegenwart
oder
Wann kommt die Liebe?

"Du siehst gut aus", ich konnte meine Augen nicht von ihr abwenden, wie sie da so stand am Eingang ihres Bauwagens, den sie gerade innen neu strich, mit T-Shirt und Sommerhose, braungebrannt, die Malerbürste in der einen Hand, den Farbtopf in der anderen, kleine lila Sprenkel an Händen und Armen, Kleckse und Spritzer auf Hemd, Hose und Schuhe, und vom Schweiß abwischen lila Streifen auf Stirn und Haaren.

"Ja, das wollte ich auch gerade sagen, richtig strahlend und zufrieden, gehts dir gut?" Sie lachte, weil ich nur nickte und weiterhin dastand und sie anstarrte. Ihre Augen waren noch eine Spur heller und wässriger als sonst und standen damit in Kontrast zur Haut. Dünn war sie, fast mager, das war mir bisher nie so aufgefallen. "Ich hab vorhin grad eine alte Musikkassette gefunden", im Hintergrund war Musik zu hören, die ich nicht genau einordnen konnte, "unsere ersten Lieder". Ihre Augen wurden noch ein bisschen heller, leuchteten, und ihr Blick verlor sich irgendwo hinter mir.

Schnitt - wir sehen Brigitte im Bauwagen weiterstreichen, Jutta sitzt davor und schaut ihr zu. Im Hintergrund kommt ein junger Mann durch den Garten, ebenfalls sommerlich gekleidet mit Latzhose und T-Shirt. Er setzt sich in einiger Entferung auf eine Bank, holt seinen Tabak raus und dreht sich eine. Zu ihm hinüber wehen die Klänge der Musik, sein Blick wird hell, er raucht.

Ich hatte Brigitte länger nicht gesehen. Vor kurzem hatte ich die Einladung zur Eröffnung ihrer neuen Ausstellung erhalten, und da ich gerade in der Nähe war, wollte ich mich schnell dafür bedanken und zusagen. Wir kannten uns inzwischen fast ein Jahr, sie war mir sofort vertraut, vielleicht wie eine Schwester. Heute jedoch kam sie mir vor wie eine unbekannte Sagengestalt, alles an ihr war neu, faszinierend, verlockend.

"Wir haben den Wagen erst vor 2 Wochen bekommen und seitdem arbeiten wir rund um die Uhr dran, ist ein ganz schönes Stück Arbeit, so ein Uraltding wieder schick zu machen." Sie lachte, ich hatte nur die Hälfte mitbekommen. Mir war schwindlig, die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Aus dem Augenwinkel sah ich ihren Freund, ich musste los.

Schnitt - wir sehen Jutta auf ihrem Rad die Landstraße entlangfahren, sie tritt kraftvoll in die Pedale, den Blick entschlossen geradeaus. Was sie denkt wissen wir nicht, wie sie sich fühlt lässt sich ahnen. Allmählich werden ihre Bewegungen ruhiger, langsamer, die Anspannung weicht, sie schaut sich um, biegt in einen schmalen Seitenpfad und stellt ihr Rad ans Gatter einer Weide.

Wenn man so schlagartig von der Präsenz eines Menschen getroffen wird, ist die Zukunft ein Kinderspiel, Liebe, Beziehung, Partnerschaft, Sexualität scheinen gar kein Problem mehr zu sein. Brigitte und ich sind ein Paar, leben gemütlich zusammen in ihrem neuen Bauwagen und genießen den Sommer. Natürlich verlässt sie ihren Freund, und ich überwinde meine Scheu vor einer festen Partnerschaft. Aber Brigitte war in der Vergangenheit, "unsere ersten Lieder", ihr entfernter Blick, das Versonnene darin, wie kann es da eine Gegenwart geben?

Schnitt - wir sehen Jutta auf der Weide bei ihren Pferden, sie putzt das eine und ist ganz in ihr Tun versunken. Die Tiere sind ihre Familie, ihr Zuhause. Eine Frau steht schon eine Weile unbemerkt am Rand und beobachtet sie. "Tolle Pferde, sind das deine?" Jutta blickt auf "ja, wieso?" Die Frau schaut sie direkt an, die Gegenwart beginnt.