Dienstag, 9. März 2010

Es ist Zeit für eine Geschichte.

Kinder und Enkel und Urenkel kommen im gemütlichen Zimmer der Alten zusammen, lachen, plaudern, sind aufgeregt und gespannt. In den letzten Jahren ist dieser Ausspruch, der zum Ritual dazugehört, nur selten erklungen, Großmutter ist fast 90 und wird langsam schwach und müde, geistig jedoch ist sie immer noch glasklar und manchmal schneidend scharf, wer sie nicht kennt und sie da so in ihrem Sessel sitzen sieht, klein, dünn, faltig, ein wenig zusammengesunken, unterschätzt sie leicht und ist erstaunt und betroffen, wenn sie einen ihrer berühmten Seitenhiebe austeilt.

Es geht um Odysseus, den großen Helden der Antike. Spott schwingt in ihrer etwas brüchigen Stimme, ein kleines verschmitztes Lächeln huscht über ihr Gesicht und bleibt in den Mundwinkeln und den Augen sitzen. Nachdenklich betrachtet sie ihre Familie, Söhne und Töchter mit Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern oder Freunden und Freundinnen, die Enkel, teilweise auch schon mit Partner und sogar Urenkel. Ganz leicht wird ihr Herz, wenn sie in die Gesichter sieht.

In groben Zügen kennt wohl jeder die Geschichte: Odysseus zieht los um bei der Befreiung Helenas zu kämpfen und irrt nach der 10jährigen Belagerung noch weitere 10 Jahre durch die Weltmeere, um wieder nach Hause zu kommen. Unterwegs muss er zahlreiche Abenteuer bestehen, sieht seltsame Orte und Wesen und versackt zeitweise bei Kirke und Kalypso, auf ihrer Insel der Träume. Irgendwann jedoch kommt er tatsächlich nach Hause und hier endet dann die Geschichte. Ich habe mich immer gefragt, wieso sich keiner der antiken Erzähler die Mühe gemacht hat weiterzuerzählen, denn die Ankunft ist doch erst der Anfang einer neuen Geschichte.

Was soll man denn da noch groß erzählen, Oma? Er kommt heim, alle freuen sich, lassen ihn hochleben und feiern ein großes Fest - Ende.

So! Alle freuen sich? Stell dir die Situation doch mal vor. Du bist jetzt fast 30, vielleicht im gleichen Alter wie Odysseus und seine Frau als er loszog. 20 Jahre später, du bist inzwischen fast 50, steht er wieder vor dir, freust du dich? Sofort? Vorbehaltlos? Ohne gekränkt oder verletzt zu sein? Und was hast du in dieser Zeit gemacht? Die Zeit ist ja nicht einfach stehengeblieben wie bei Dornröschen, du bist nicht in 20jährigen Schlaf gefallen und kannst jetzt an dem Punkt weitermachen, wo er damals weggefahren ist und ihn ohrfeigen, oder?

Gibt es nicht noch die Geschichte mit Penelope, die von zahlreichen Freiern bedrängt wird, und Odysseus schleicht sich als Bettler ein und wird erkannt, weil nur er seinen Bogen spannen kann?

Ja, und dann metzelt er alle nieder und hängt irgendwelche untreuen Mägde an die Leine, furchtbare Geschichte und ehrlich gesagt nicht sehr überzeugend, schließlich hatte sie 20 Jahre keine Probleme ohne ihn zurechtzukommen, ist weder vergewaltigt noch beraubt oder fortgejagt worden, was angesichts der damaligen Verhältnisse ja gar nicht so weit hergeholt wäre.

Dann erzähl uns deine Version davon, was derweil passiert ist und was dann weiter passiert, füll für uns diese Lücke, Mutti.

Gut, Penelope war vermutlich erst anfang 20 als Odysseus loszog, sie war sicher auch nicht mit ihm verheiratet, wie ich Odysseus einschätze, hatte er lediglich eine kurze Affaire mit ihr. Sie bewunderte ihn, weil er soviel wusste und ihr soviel zeigen und erklären konnte. Wie für viele junge Mädchen war er ihr Held, den sie anhimmelte und der für sie Vorbild für Stärke, Kraft und engagiertes Tun war. Wie er wollte sie in ihrem Leben etwas aufbauen, gestalten, andere begeistern und ihnen Freude bringen. Sie stand am Anfang ihres Weges, noch unsicher, ob sie das schaffen würde. Mit seiner Hilfe sicherlich.

Aber er geht weg.

Ja, er geht weg, sein Weg führt ihn hinaus aufs Meer, in Abenteuer, die sie sich nicht ansatzweise vorstellen kann.

Warum ist sie nicht mit ihm gegangen?

Heute wäre das sicher möglich, aber damals war das völlig undenkbar. Abenteuer bestehen nur "Männer." Wieder huscht dieses verschmitzte Lächeln über ihr Gesicht, und wenn man genau schaut ist vielleicht auch ein Hauch von Ärger um ihren schmalen Mund.

Penelope ist allein. Ihre Familie ist arm, kann sie nicht unterstützen, und durch ihre Affaire mit Odysseus ist ihr Ansehen in der Gesellschaft rapide gesunken. Daher geht sie weg, zieht zu einer Freundin aufs Land und hilft ihr in der kleinen Bäckerei. Hier kann sie aufatmen und neu anfangen. Ihre Nachbarn sind nett, schnell hat sie Anschluss gefunden, Odysseus ist hier nahezu unbekannt.

Ist sie nicht traurig?

Und wartet sie denn nicht darauf, dass Odysseus zurückkommt?

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Damals war die Seefahrt ja noch lebensgefährlich, man wusste wenig darüber, wie man den Gefahren der Meere begegnen konnte, vor einer Seereise machte man sein Testament und betete für eine glückliche Rückkehr. Poseidon war gefürchtet und wer nicht unbedingt musste, blieb lieber an Land. Ich kann mir daher vorstellen, dass auch Penelope eher davon ausging, ihren Liebsten nicht mehr wiederzusehen. Sie war auch noch nicht allzu lange mit ihm befreundet gewesen und jung genug, jemand anderen kennenzulernen.

Wie unromantisch!

Ja, ich weiß was ihr Männer jetzt hören wollt: Penelope saß die ganzen 20 Jahre traurig und allein in einer dunklen Kammer und verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihrer großen Liebe. Tag für Tag ging sie zum Tempel des Poseidon und opferte großzügig. Ansonsten hüllte sie sich in Sack und Asche, wurde immer dünner und unglücklicher und wäre fast gestorben, aber da kam, nach 20 Jahren endlich, der Held, der Retter, Odysseus, erste und einzige Liebe, und sie fiel ihm überglücklich und dankbar in die Arme und war schlagartig wieder schön, anmutig und bezaubernd wie das junge Mädchen von damals, richtig?

Na ja, wenn du das so überzogen erzählst klingt es richtig albern und lächerlich.

Und genau das ist es. Penelope entwickelt sich weiter, sie wird stark und schön, sie wird eine Frau, die aus ihrer inneren Mitte heraus lebt, die Freude um sich herum verbreitet. Sie findet auf dem Land ein Zuhause, sie liebt ihre Arbeit und die Menschen, mit denen sie zusammenlebt. Sie wird ruhiger, in sich gefestigter.

Hat sie einen anderen Mann gehabt?

Nein, jedenfalls nicht im traditionellen Sinn. Sie hat nicht geheiratet, sondern das Leben einer unabhängigen Frau geführt. Da sie jedoch 3 Töchter hat, muss sie wohl auch Beziehungen zu Männern gehabt haben.

Sie war zu der Zeit eine Alleinerziehende???

Teilweise könnte man das sicher so nennen, doch anders als heutzutage hatte sie ganz selbstverständlich Unterstützung und Hilfe durch ihre Freundin mit der Bäckerei, Nachbarn und Freunde. Sie hatte sich ein soziales Netz aufgebaut, das sie auch in schwierigen Zeiten trug. Sie hatte einer Frau bei der Geburt geholfen, sie war da, wenn ein Babysitter gebraucht wurde, sie übernahm auch mal das Füttern der Tiere auf dem nächsten Hof oder ging für den alten Großvater zum Markt.

Aber auf dem Land weiß jeder alles, keine Intimsphäre, nur Klatsch und Tratsch.

Schon möglich, doch oft kommt es auf einen selbst an, ob man sich Freunde oder Feinde macht. Penelope mit ihrer netten offenen Art hatte jedenfalls schnell die Herzen im Dorf erobert. Klar, dass einige, gerade die Älteren skeptisch blieben und abwarteten, aber 20 Jahre sind schließlich eine lange Zeit.

Hat sie denn dann Bäckerin gelernt? War ihr das nicht zu langweilig?

Ja, es war das naheliegendste, die Bäckerei der Freundin bestand schon seit 3 Generationen, lief gut und bot genug Arbeit auch für Penelope. Aber dabei blieb es nicht. Penelope war neugierig und experimentierfreudig, sie kreierte neue Gebäckstücke und Kuchen, kleine Süßigkeiten für die Götteropfer und Knabbereien für die Arbeitspausen. Die Leute waren begeistert, es sprach sich schnell herum und schon bald kamen auch die Leute aus dem näheren und weiteren Umland. Der Laden lief, die beiden Frauen konnten die viele Arbeit gar nicht allein bewältigen.

Also mussten doch wieder die Männer ran, wie immer.

Nein, im Gegenteil, sie bauten ein Frauenprojekt auf, das jungen Frauen ermöglichte, durch die Arbeit auf eigenen Beinen zu stehen.

Emanzen? In der Antike? Oma du spinnst!

Emanzipation ist nicht so neu wie du vielleicht denkst, nicht erst in den 60ern sind Frauen losgezogen um für ihre Rechte zu kämpfen, es war nur früher sehr viel unspektakulärer, vielleicht auch versteckter und indirekter. Weder Penelope noch ihre Freundin hätten etwas "gefordert", aber sie nutzten die Möglichkeiten und Lücken, die sich ihnen boten. Später waren ja auch Frauenklöster oder Beginenhöfe Freiräume, die Frauen zu nutzen wussten.

O.k. du willst uns also weismachen, Penelope macht "Karriere" in der Bäckerei, zieht nebenbei ihre Kinder groß und wird getragen vom nachbarschaftlichen sozialen Netz? Ist das nicht arg blauäugig?

Es ist eine denkbare Alternative zu eurer Version: Odysseus ist weg, ihre Familie hat sie verstoßen, sie muss auf die Straße gehen und ihren Körper verkaufen, um zu überleben, aus Scham darüber, dass sie so ein Flittchen war und jetzt ein leichtes Mädchen, ertränkt sie ihren Kummer im Alkohol, den es auch schon damals gab, schläft in der Gosse und stirbt natürlich früh, oder bringt sich am besten auch noch selbst um, als Strafe für ihr "sündiges Leben."

Da gefällt mir deine Version eindeutig besser.

Ja, mir auch, besonders weil es viel realistischer ist in bezug auf die tatsächlichen Fähigkeiten von Penelope. Sie ist klug und verantwortungsbewusst, sie kann planen und anpacken. Sie hat über 20 Jahre ohne Odysseus gelebt und ist zurechtgekommen, warum soll sie völlig hilflos im Elend versinken, nur weil er jetzt weg ist?' Wenn sie ihm nicht begegnet wäre, hätte sie ja auch zurechtkommen müssen.

Du verdirbst einem aber auch wirklich alles. Das ist doch gerade das Besondere am "Blitzschlag der Liebe."

"Blitzschlag der...", die Alte prustet los, ihr ganzer zierlicher Körper bebt vor Lachen. Sie sieht ihren Enkel an, gerade mal 15 ist er, fast der Jüngste, ein Kind noch und gleichzeitig so naseweis, als hätte er es schon selbst erlebt.

Vielleicht hast du recht, ich selbst habe es zwar nur ansatzweise erlebt, aber das berechtigt mich nicht, mich darüber lustig zu machen. Doch sollte die Liebe nicht die Entwicklung beider Partner fördern? Wird man nicht durch echte Liebe und Partnerschaft emporgetragen, so dass Unmögliches plötzlich möglich wird? Und kann dieser Impuls nicht auch weitergehen, über die Zeit der Liebe hinaus? Habe ich denn nicht das Recht weiterzuwachsen, auch wenn mich der Partner verlässt?

Sie sieht ihren Enkel an, gerade, direkt. Plötzlich geht es nicht mehr nur um eine Geschichte aus der Antike, die Gegenwart oder besser vielleicht ihre eigene Vergangenheit hat sich dazwischengedrängt und legt einen Flor aus Ernsthaftigkeit und stiller Trauer über ihre Züge. Er schweigt, zu stark ist für ihn die stumme Klage, und nicht nur für ihn.

Und wann kommt jetzt endlich Odysseus zurück? Die Kleine auf dem Boden hat ihre Uroma ungeduldig am Bein gestubst. Zu gespannt ist sie auf den großen Helden Odysseus, zu unverständlich die Düsternis der Alten. Am Ende erzählt sie gar nicht mehr weiter und dann erfährt sie ja nie was passiert ist, als Odysseus endlich heimkommt.

In dem kleinen Dorf braucht es etwas länger, bis die Nachricht von der Rückkehr Odysseus ankommt. Den meisten sagt der Name gar nichts, ein paar der Älteren haben schwache Assoziationen an einen früheren Helden o.ä. der schon lange verschollen ist. Penelope ist hin und hergerissen, sie ist wieder jung und unerfahren und gleichzeitig ist sie eine starke Frau, die selbständig ihr Leben organisiert.

Will sie ihn denn nicht sofort wiedersehen?

Na, was meinst du? Sie weiß, dass sie sich seit damals verändert hat, auch Odysseus wird sich verändert haben. Sie hat ein Bild von ihm im Kopf von der Zeit, auch von sich und ihrer Beziehung. Im Nachhinein erkennt sie, dass es keine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe war, er war selbstbewusst, wissend, erfahren und damit ihr Lehrer. Jetzt aber ist sie ihren eigenen Weg gegangen, hat sich selbst gefunden und ist auch selbstbewusst, wissend, erfahren. Wird er damit umgehen können?

Geht sie wenigstens mal in die Stadt, um ihn wiederzusehen?

Sie überlegt lange, lässt sich Zeit für eine eigene Entscheidung. Sie will sich nicht mitreißen lassen von den vielen Stimmen, die sagen, sie gehöre schließlich zu ihm, auch nicht von denen, die sie beschwören, ihn nicht zu sehen, weil er sie schließlich verlassen hat. Dann ist die Entscheidung gefallen, klar, eindeutig. Sie wird ihn sehen, hier, und ihm zeigen, was sie aufgebaut hat. Sie lädt ihn ein, wartet.

Und? Kommt er? Kann er sich denn überhaupt noch an sie erinnern?

Ja, sofort. Er hat das junge Mädchen vor Augen, das ihn anstaunt, mit offenem Mund zuhört, ihm folgt, ihn liebt. Zu gern kommt er, um diese arme Seele zu erlösen von ihrer jahrelangen, quälenden Warterei.

Na, das kann ja was werden.

Genau. Mit fliegenden Fahnen eilt er zu ihr, doch das Mädchen findet er nicht. Und vor der Frau, die ihm fremd gegenübersteht flieht er. Nicht immer sind Menschen stark genug, auch die Stärke des anderen gelten zu lassen.

Das ist ein doofes Ende.

Die Alte wirkt ganz in sich versunken. Nachdenklich sieht sie in die Runde. Haben sie verstanden? Wissen sie jetzt, worauf es tatsächlich ankommt? Werden sie es besser machen? Früher war sie optimistischer, klar werden sie es besser machen, es können schließlich nicht alle so dumm und feige wie Odysseus sein, aber heute? Sie wiegt langsam den Kopf, horcht in sich hinein, lächelt. Doch, auch sie werden wachsen an Aufgaben, Schwierigkeiten, Erfolgen und Misserfolgen. Sie werden stark werden, wie sie, und ihren Kindern und Enkeln und Urenkeln die alten Geschichten erzählen, die sich wiederholen, immer und immer wieder.